Im Interview erläutert Marco Röttgen vom Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW, wie die Publikation "BIM und Lean Construction" erstmals modellbasierte Lean-Anwendungsfälle beschreibt – und warum gerade diese Verbindung ein Schlüssel zur Bauwende ist.
Herr Röttgen, was dürfen die Leserinnen und Leser von der neuen Publikation "BIM und Lean Construction" erwarten – was ist das Besondere daran?
Die buildingSMART-Fachgruppe BIM und Lean Construction (BIM und Lean) widmet sich der Verknüpfung beider Ansätze und will den erheblichen Mehrwert dieser Verbindung durch ein gemeinsames Verständnis sowie einheitliche und offene Standards der gemeinsamen Anwendungen für die komplette Wertschöpfungskette Bauen und Planen nutzbar machen. Zum ersten Mal überhaupt, werden in dieser Veröffentlichung modellbasierte Lean-Anwendungsfälle ganz konkret thematisiert und aufgezeigt. Die bisherige Literatur zum Thema BIM und Lean hat sich vor allem mit dem Einsatz beider Methoden im Projektalltag beschäftigt. Mit der Erarbeitung der drei Anwendungsfälle "bauvorbereitende modellbasierte Produktionsplanung", "modellbasierte Vorschauplanung" und "modellbasiertes Stand-Up Meeting", wurde der Fokus für den Anfang auf die Baustelle, zunächst im Hochbau, als Ort der Wertschöpfung gelegt. Die erarbeiteten Anwendungsfälle sollen dort die Prozesse, digitaler, schlanker, stabiler und verschwendungsärmer machen und dadurch einen direkt spürbaren Mehrwert schaffen. Die gewonnen Erkenntnisse werden in der zukünftigen Arbeit der Fachgruppe auch auf weitere Bereiche und Anwendungen der Wertschöpfungskette übertragen.
"Deshalb kann man bei dieser Fachgruppe im wahrsten Sinne von einer Verschmelzung zweier Welten sprechen – mit dem klaren Ziel, die Digitalisierung und Transformation der Bauwelt durch schlanke und innovative Prozesse entscheidend voranzubringen."
Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit dem GLCI bei dieser Veröffentlichung – und was macht sie besonders fruchtbar?
Die Fachgruppe wurde gemeinsam vom GLCI und bSD ins Leben gerufen. Jedes Mitglied der Fachgruppe BIM und Lean war zuvor bereits in mindestens einem dieser beiden Kompetenznetzwerke aktiv, viele sogar in beiden. Deshalb kann man bei dieser Fachgruppe im wahrsten Sinne von einer Verschmelzung zweier Welten sprechen – mit dem klaren Ziel, die Digitalisierung und Transformation der Bauwelt durch schlanke und innovative Prozesse entscheidend voranzubringen. Die Ergebnisse der Fachgruppenarbeit werden regelmäßig auf Veranstaltungen wie dem buildingSMART-Anwendertag oder dem GLCI-Event "Lean in der Planung" vorgestellt und diskutiert. Dadurch fließt unmittelbares Feedback aus beiden Perspektiven kontinuierlich in die weitere Arbeit der Fachgruppe ein.
Für wen ist dieses Buch gedacht?
Dieses Buch richtet sich an alle, die sich für Lean im Bauprozess und die Synergien zum BIM interessieren, sei es als Anfänger oder als Experte. Es dient sowohl als Einstiegshilfe als auch zur Vereinheitlichung in laufenden Projekten.
Warum ist es gerade in der heutigen Zeit so wichtig, sich mit der Kombination von BIM und Lean Construction auseinanderzusetzen?
Die heutigen und insbesondere die zukünftigen Bauaufgaben werden zunehmend komplexer. Verantwortlich dafür sind stetig wachsende Anforderungen seitens der Eigentümer und Nutzer, verschärfte gesetzliche Vorgaben, der anhaltende Fachkräftemangel sowie immer wieder auftretende Materialengpässe. Bauherren, Planende und Ausführende erkennen zunehmend, dass die herkömmlichen Steuerungs- und Planungsmethoden für die Realisierung und den Betrieb von Liegenschaften an ihre Grenzen stoßen.
"Vor allem im Bauwesen, das ganz besonders vom Unikatdenken geprägt ist, bei dem jedes Gebäude häufig als eigenständige Schöpfung betrachtet wird, entfalten BIM und Lean durch den Einsatz digitaler Werkzeuge, die Schaffung von Prozessstabilität und die gezielte Reduzierung von Verschwendung ein außerordentliches Potenzial."
Wie beeinflussen Themen wie Nachhaltigkeit, Digitalisierung und der Fachkräftemangel die Wertschöpfungskette Bau – und welche Antworten geben BIM und Lean darauf?
Diese drei Aspekte zählen zweifellos zu den aktuell größten Herausforderungen für die Wertschöpfungskette Bau, bieten zugleich jedoch auch eine enorme Chance für eine grundlegende Veränderung. Vor allem im Bauwesen, das ganz besonders vom Unikatdenken geprägt ist, bei dem jedes Gebäude häufig als eigenständige Schöpfung betrachtet wird, entfalten BIM und Lean durch den Einsatz digitaler Werkzeuge, die Schaffung von Prozessstabilität und die gezielte Reduzierung von Verschwendung ein außerordentliches Potenzial. Die dadurch erzeugte Effizienz schafft die Grundlage für nachhaltiges Handeln und einen verantwortungsvollen Umgang mit wertvollen Ressourcen wie Arbeitskraft und Material.
Inwiefern bedeutet die Einführung von BIM und Lean auch einen Kulturwandel in Bauprojekten – gerade mit Blick auf Zusammenarbeit und Führung?
Die Bauwelt ist vielerorts auch heute noch geprägt von Silodenken, persönlichem Heldentum und einer konfrontativen Streitkultur. Ein zentraler Aspekt im Zusammenspiel von BIM als kooperativer Arbeitsmethodik und Lean als Managementphilosophie ist daher der Schritt hin zu echter Kollaboration. Gemeint ist eine Zusammenarbeit, die auf gemeinsamen Werten und gegenseitigem Respekt basiert – unabhängig von Rolle oder Status – und konsequent auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet ist. Damit entsteht ein grundlegender Kulturwandel: weg von reinen Zweckgemeinschaften, bei denen im Problemfall jeder eigene Interessen verfolgt, hin zu krisenfesten Projektteams, die persönliche Ziele dem gemeinsamen Projekterfolg unterordnen – ganz im Sinne von „Best for Project“.
Wie lassen sich die Prinzipien von Lean und die Methodik von BIM ideal miteinander verzahnen?
Building Information Modeling (BIM) nimmt bereits seit geraumer Zeit eine Vorreiterrolle bei der weltweiten Digitalisierung der Bauwelt ein. Mit dem Ziel eines datenbasierten Prozessflusses werden alle relevanten Informationen von Beginn an digital im Datenmodell erfasst. Dadurch wird eine kooperative Zusammenarbeit aller Projektbeteiligten über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes hinweg ermöglicht. Lean Management basiert auf klaren Werten und Prinzipien und verfolgt konsequent das Ziel, Prozesse durch die Reduktion oder vollständige Beseitigung von Störungen und Problemen schlanker, stabiler und verschwendungsärmer zu gestalten. Ziel der Fachgruppe ist es, die Lean-Anwendungsfälle entlang der Wertschöpfungskette Bau mit dem BIM-Datenmodell zu verknüpfen, dafür einheitliche und offene Standards zu schaffen und die Lean-Anwendungen dadurch digitaler, stabiler und insgesamt effizienter zu gestalten.
Welche konkreten Empfehlungen oder (Vor-)Standards hat die Fachgruppe bislang erarbeitet – und was davon ist im Buch enthalten?
Um eine einheitliche Grundlage für die Arbeit der Fachgruppe zu schaffen, wurden zunächst die zentralen Lean-Begriffe sowie deren Definitionen festgehalten, die für die drei Anwendungsfälle erforderlich sind. Ziel war es, eine gemeinsame Sprache und ein einheitliches Grundverständnis zu etablieren. In den Steckbriefen zu den Anwendungsfällen sind unter anderem der Input und Output klar beschrieben. Zudem wird die erforderliche Informationsbedarfstiefe anhand der LOIN-Tabelle dargestellt. Darüber hinaus ist der jeweilige Prozess im Detail beschrieben und nachvollziehbar aufbereitet.
"Die Veröffentlichung zeigt vor allem deutlich, dass sich durch die Kombination von BIM und Lean auf Basis modellbasierter Anwendungsfälle unmittelbare Mehrwerte erzielen lassen – zunächst auf der Baustelle, perspektivisch aber auch in der Planung."
Was sind typische Missverständnisse, wenn es um BIM und Lean geht – und wie räumt die Veröffentlichung damit auf?
Die Veröffentlichung zeigt vor allem deutlich, dass sich durch die Kombination von BIM und Lean auf Basis modellbasierter Anwendungsfälle unmittelbare Mehrwerte erzielen lassen – zunächst auf der Baustelle, perspektivisch aber auch in der Planung. Entgegen möglicher Erwartungen handelt es sich dabei keineswegs um eine rein theoretische Auseinandersetzung. Erste Testläufe mit entsprechenden Softwareanwendungen wurden bereits im Rahmen der Fachgruppenarbeit durchgeführt und sollen künftig weiterentwickelt werden, damit die gesamte Wertschöpfungskette des Planens und Bauens von diesen Ansätzen profitieren kann.
Wie hilft die Veröffentlichung dabei, den Einstieg in das Thema zu finden – auch für Unternehmen, die noch am Anfang stehen?
Spätestens mit der Übertragung in eine Softwareanwendung wird die zunächst theoretisch beschriebene Kombination zweier auf den ersten Blick möglicherweise abstrakter Methoden für Einsteiger greifbar und in nicht allzu ferner Zukunft direkt anwendbar. Einen ersten Eindruck von den zukünftigen Softwareanwendungen und ihrem konkreten Mehrwert erhält man bereits durch die in der Veröffentlichung enthaltenen Praxisbeispiele.
Wie kann die Arbeit der Fachgruppe weiterwirken – etwa in Richtung Normung, Schulung oder Pilotprojekte?
Mit der Veröffentlichung der Schriftenreihe und der anschließenden Präsenz auf Fachveranstaltungen wie dem BIM-Anwendertag oder der GLCI-Veranstaltung „Lean in der Planung“ hat die Fachgruppe nicht nur aktiv Feedback zur bisherigen Arbeit eingeholt, sondern zugleich versucht, sowohl Neueinsteiger als auch ein fachkundiges Publikum für das Thema zu begeistern. Nach den ersten Testläufen an einem Versuchsmodell ist selbstverständlich auch der Einsatz in einem konkreten Pilotprojekt für die Zukunft vorgesehen.
Wo sehen Sie die größten Hebel für Veränderungen in der Baupraxis – und wie kann jeder Einzelne dazu beitragen?
Der größte Hebel für Veränderungen in der Baupraxis liegt in der Erkenntnis, dass die bestehenden kulturellen Muster und Methoden nicht ausreichen werden, um die bereits beschriebenen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Jeder, der am Bau beteiligt ist, kann zu dem dafür notwendigen Kulturwandel beitragen, indem er sich bewusst für eine kollaborative Arbeitsweise als grundlegende Haltung entscheidet. Kollaboration bildet die Basis für eine krisensichere Zusammenarbeit und hohe Leistungsfähigkeit – sie kann jedoch nur funktionieren, wenn alle Beteiligten diese Haltung mit voller Überzeugung annehmen und im Alltag leben.
Was wünschen Sie sich persönlich für die weitere Entwicklung von BIM und Lean in Deutschland?
Ganz persönlich wünsche ich mir, dass sich noch mehr Bauherrenorganisationen, insbesondere auch öffentliche, für die Themen BIM, Lean und die Verbindung beider Ansätze begeistern und sich über eine Mitarbeit in der Fachgruppe aktiv an deren Standardisierung und Verbreitung beteiligen. Aus Sicht der Bauherrenschaft eröffnet die Kombination der BIM-Arbeitsmethode mit Lean als kulturellem Ansatz eine einzigartige Chance. Sie ermöglicht die gezielte Unterstützung der Transformation des Bauwesens durch eine einheitliche Denk- und Handlungsweise, die auf Kollaboration, Transparenz und Prozessstabilität basiert und die Potenziale einer digitalisierten Bauwelt optimal ausschöpft.
Herr Röttgen, vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
Hier kommen Sie zu einer Leseprobe von "BIM und Lean Construction" sowie zur Bestellung.